Oktober 1944. Die Rote Armee erreicht Ostpreußen. Millionen Deutsche sind auf der Flucht. Sie verlassen ihre Heimat, lassen Hab und Gut zurück. Einige Jahre zuvor haben unzählige Polen und Russen das erlebt, was nun Deutsche durchmachen müssen. Hass, unbändiger Hass und die Propagandaparolen Stalins haben die Rotarmisten gegen den faschistischen Feind getrieben. Nun treffen sie auf die deutsche Bevölkerung. Es ist eine grausame Abrechnung.
Viele sterben auf der Flucht. Millionen werden nach Beendigung der Kampfhandlungen aus ihrer Heimat vertrieben - die Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Schlesier und Sudetendeutschen müssen Hitlers Größenwahn büßen. Man unterschied Reichsdeutsche und Volksdeutsche. Reichsdeutsche waren Deutsche aus den Provinzen Ostpreußen, Ostpommern, Ost-Brandenburg und Schlesien. Volksdeutsche waren die Deutschen aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Hinzu kamen die Deutschen aus Jugoslawien und Rumänien. Von den 17,5 Millionen Deutschen, die in diesen Gebieten vor dem Krieg lebten, fielen etwa 1,1 Millionen im Krieg. 2,5 Millionen konnten in ihrer Heimat bleiben, während die übrigen flüchteten oder vertrieben wurden. Zwölf Millionen erreichten den Westen, also eine der 4 Besatzungszonen. Über 2 Millionen starben auf der Flucht oder der Vertreibung oder ertranken in der Ostsee. Eine erschütternde Bilanz!
Pieck und Grotewohl berichten im Januar 1947, dass von diesen 12 Millionen 3,7 Millionen Vertriebene in der damaligen sowjetischen Besatzungszone Aufnahme gefunden haben. Mit dieser Größe habe sich die Bevölkerungszahl um annähernd 25% erhöht. Und diese Größenordnung wurde für Cunnersdorf noch wesentlich überboten. Waren es 1939 in Cunnersdorf 476 Einwohner, so erhöhte sich diese Zahl 1947 auf 668.
Flucht - Elfriede Claus (Hanke) erzählt
Elfriede Claus ist die jüngste Tochter der Familie Hanke. Sie wohnten bis 1945 in Schreibendorf (Niederschlesien) nahe Breslau. Dort besaßen sie eine Wirtschaft mit 19 ha landwirtschaftlicher Fläche. Der Ort war während des Krieges schon Zufluchtsstätte für viele Oberschlesier. Im eigenen Hof waren mindestens 20 Flüchtlinge einquartiert.
Am Abend des 29. Januar 1945 kam die SA und die Polizei ins Dorf und rief:
"Die Russen schießen alle tot! Flüchtet! Hauptsache über die Oder!" Am nächsten Morgen, dem 30. Januar, begann die Flucht. Über Nacht wurde schnell noch ein Schwein geschlachtet und das Notwendigste auf den Pferdewagen gepackt. Mit 3 Pferden, davon sollte eines einen Tag später fohlen, und zwei Ochsen zog die Familie in Richtung Westen. Den Hund ließ man schweren Herzens zurück. Die Flucht im Treck sollte nur 3 Tage dauern, denn nur für 3 Tage sollte man Viehfutter mitnehmen. Optimistisch versprach die SA, dann die Russen zurückgedrängt zu haben.
In Hirschberg (jetzt Jelina Gora) war der erste Zwischenstop für 2 Wochen, das Pferd bekam sein Fohlen. Der Vater fand nachkommend seine Familie. Und auch der zurückgelassene Hund fand seinen ehemaligen Besitzer wieder. Das war ein großer Zufall und auch großes Glück, man hatte damit auf dem Wagen einen zuverlässigen Wächter, denn es wurde viel gestohlen.
Die Front rückte immer näher. Über Zittau, Radeberg. Ottendorf, Lommatsch kam man nach Wiltenau bei Großenhain. In jedem der Orte war man nur wenige Tage oder Nächte. Geschlafen wurde meist im Stall bei den Tieren, nur das neugeborene Fohlen hatte einen Sonderschlafplatz auf dem Wagen. In Wiltenhain, so erinnert sich Elfriede Claus, wurde man mitten in der Nacht von Tieffliegern geweckt. Man rief nur noch: ",Sofort packen, der Russe ist da!" Die Familie flüchtete bis Riesa, dort war aber die Elbbrücke gesprengt. Es gab nur eine Behelfsbrücke, an der man bis zum Nachmittag warten musste. Viele Fuhrwerke waren nicht mehr in der Lage die steilen An- und Abfahrten der Brücke zu bewältigen. Die Fuhrwerke aus Schlesien waren ja auch schwer und nur für das flache Land geeignet. Deshalb stürzten auch viele Fuhrwerke in die Elbe und versanken in den Fluten.
Weiter ging es über Zeithain nach Oschatz. Dort war die Flucht vor den Russen zu Ende. Auf der Straße zwischen Mügeln und Wermsdorf kamen die Amerikaner entgegen. Eine neue Unterkunft fand man in Gröppendorf.
Die Nachkriegszeit ist Elfriede Claus noch gut in Erinnerung, vor allem das Wüten der Russen. Alle Männer wurden verfolgt und verdächtigt Nazi zu sein. Frauen wurde belästigt, vergewaltigt, sie stürzten sich aus Verzweiflung aus dem Fenster. Aber zu den kleinen Kindern war der Russe lieb. Sie wurden auf den Schoß genommen, gestreichelt und mit Schokolade beschenkt.
In Gröppendorf hätte man eine Neubauernstelle bekommen können, man wollte aber nicht bauen, sondern einen Hof pachten. So kam die Familie Ende März 1950 nach Cunnersdorf.
"Umsiedlung" und Vertreibung
Familie Richard Rothe
Unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands begann die polnische Regierung mit der Umsiedlung der östlich der neuen Grenze an der Oder und Neiße lebenden Deutschen. Folgende Befehle wurden in jedem Ort erlassen:
Am 14. Juli 1945 ab 6 bis 9 Uhr wird eine Umsiedlung der deutschen Bevölkerung stattfinden.
Die deutsche Bevölkerung wird in das Gebiet westlich der Neiße umgesiedelt.
Jeder Deutsche darf höchstens 20 kg Reisegepäck mitnehmen.
Kein Transport (Wagen, Ochsen, Pferde, Kühe usw.) wird erlaubt.
Das gesamte lebendige und tote Inventar bleibt Eigentum der polnischen Regierung.
Diejenigen Deutschen, die im Besitz der Nichtevakuierungsbescheinigung sind, dürfen die Wohnung mit ihren Angehörigen in der Zeit von 5 bis 14 Uhr nicht verlassen.
Die Familie Richard Rothe, die in Welkersdorf bei Greifenberg (Niederschlesien) ein Haus mit Landwirtschaft besaß, fiel unter die Festlegung des Punktes 6. Herr Rothe war in einer Möbelfabrik als Vorarbeiter beschäftigt. Ihn behielten die Polen zurück, um die neuen Arbeiter, die aus Ostpolen nachrückten, anzulernen. Aber Mitte Juli 1947 wurden auch sie vertrieben. So musste sich Herr Rothe mit Frau Emma und Tochter Hilde in Marsch setzen. Sohn Walter war zu dieser Zeit noch in polnischer Kriegsgefangenschaft, die bis August 1949 dauerte. Diese spätere Aussiedlung brachte kleine Vorteile, indem Familie Rothe etwas mehr Gepäck mitnehmen konnte und die Transporte geordneter verliefen. Ihr Weg führte sie über den Sammelpunkt Greifenberg, über Kohlfurt, Görlitz, Dresden und endete in Dippoldiswalde in der Gaststätte "Reichskrone".
Aufgrund eines Aufrufes kamen Bürgermeister und Bauern aus der Umgebung nach Dippoldiswalde, um die ausgesiedelten Familie in Empfang zu nehmen. Der Bauer Kurt Rehn aus Cunnersdorf nahm sich der Familie Rothe an. Sie erhielten dort die erste Unterkunft. Richard Rothe bekam auch bald Arbeit in der Firma Paka in Glashütte, die bis an sein Rentenalter andauerte. Emma Rothe half bei verschiedenen Bauern und auch in Geschäftshäusern mit. Tochter Hilde war Angestellte in der Gaststätte "Lindenhof". Wegen Diskrepanzen mit der Inhaberin verließ sie aber Ende 1947 Cunnersdorf und siedelte in die Nähe von Hannover über. Sie heiratete dort und starb leider sehr früh im März 1992.
1949 zog die Familie Rothe zur Familie Max Reichel und von dort 1952 zu Dittrichs Erben im Niederdorf, jetzt schon gemeinsam mit Sohn Walter, der 1952 Gerda geb. Ludwig - ebenfalls aus Niederschlesien - heiratete. Aus dieser Ehe gingen ein Sohn und eine Tochter hervor, die sich ebenfalls in Cunnersdorf niedergelassen haben. Sohn Walter bekam ebenfalls in der Firma Paka Arbeit, später zog es ihn aber zu Baufirmen. Er war spezialisiert für Schachtarbeiten. Richard und Emma zogen dann von 1955 bis 1964 in die Bäckerei Zschoch und von dort in die Neubauernstelle von Richard Wirth, in den früheren Fernsehraum der LPG. Emma Rothe verstarb 1985 im Alter von 87 Jahren und Richard Rothe wurde von seinen Kindern Walter und Gerda aufgenommen und bis zu seinem Tod im Oktober 1993 vorbildlich betreut. Er erreichte das gesegnete Alter von 92 Jahren.
Die Familie Rothe war und ist beliebt in unserem Ort, obwohl sich besonders Emma nur sehr langsam an die neue Heimat gewöhnen konnte. Um so erfreuter war sie, als einmal für sie und später mehrmals für die Familienangehörigen ein Besuch in der alten Heimat in Welkersdorf möglich wurde. Sie wurden dort von den Polen freundlich empfangen und auch bewirtet. Ausnahmen bestätigen die Regel! Allerdings war ihr Haus und auch die evangelische Kirche des Ortes abgerissen worden. Walter und Gerda mit Sohn Jürgen waren sogar 1968 einmal mit dem Fahrrad dort unterwegs. Die ehemaligen Umsiedler aus dem Kreis Löwenberg in Niederschlesien halten noch heute fest zusammen und es gibt jährlich große Treffen mit fast 150 Personen im Gebiet von Hannover oder Zwickau oder auch in der alten Heimat.
Eine monatlich erscheinende Zeitung über den Kreis Löwenberg, die in Bayern gedruckt wird, bringt Geschichte aus der alten Heimat oder Episoden aus der Jetztzeit und berichtet über freudige- aber auch traurige Ereignisse. Sie ist ein wahres Bindeglied geworden.
Flucht - Werner Heß erzählt
1930 wurde Werner Heß in Schmalleningken, Ortsteil Wittkehmen im Kreis Tilsit-Ragnit im Memelgebiet geboren. Hier wohnte er mit seinen Eltern bis 1944.
"Am 3. Oktober sind wir mit dem letzten Kleinbahnzug, Personen- und Güterzug, bis Tilsit gefahren. Dort wurden wir auf die normale, große Bahn umgeladen. Während der Fahrt mit der Kleinbahn war Geschützdonner hörbar, der Frontverlauf war also nicht mehr fern. Mit der Bahn ging es von Tilsit zum Bahnknotenpunkt Schillen, Ostpreußen. Dort wurden wir für 14 Tage auf ein nahe gelegenes Rittergut einquartiert. Dann ging es per Bahn von Schillen über Posen bis nach Oschatz. Von dort wurden wir in das 13 km entfernte Malitz abgeholt. In Malitz erlebte ich mit meiner Mutter das Kriegsende, mein Vater kam 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft heim, meine zwei Brüder sind im Krieg gefallen.
In der Zeit von 1946 bis 1949 absolvierte ich eine Klempnerlehre, anschließend arbeitete ich bei der Wismut Johanngeorgenstadt im Uranbergbau bis 1956. Mein Vater arbeitete bei seinem Schwager Hirsch in Cunnersdorf. Weihnachten 1950 war ich das erste Mal in Cunnersdorf bei meinen Eltern. Durch Besuche bei meinen Eltern lernte ich meine Frau kennen. 1956 heirateten wir. Ich arbeitete dann als Betriebshandwerker in den Glashütter Uhrenbetrieben. So wurde Cunnersdorf meine Heimat."
Flucht - Else Dirschowsky geb. Hirsch erzählt
Ich wurde 1913 in Schmalleningken im Memelgebiet geboren. Meine Eltern hatten ein ca. 40 ha großes Bauerngut, das schon seit Generationen von der Familie Hirsch bewirtschaftet wurde. Meine Mutter wurde 1915 von den Russen nach Symbyrsk, jetzt Uljanowsk, mit ihren 3 Kindern verschleppt und musste dort arbeiten. Vater war im Krieg. 1918 kehrten wir zurück und es begann der Neuaufbau des Hofes. Zuerst war das Memelgebiet von den Franzosen besetzt, dann kam es zu Litauen. 1937 heiratete ich.
Mitte August 1944 flüchteten wir mit Pferd und Wagen über die Memel, kehrten aber nach 14 Tagen zurück, um die Ernte einzubringen. Am 7. Oktober 1944 musste das ganze Dorf schnell fort, mit Pferd und Wagen flüchteten ich mit meinen Eltern bis Wartenstein in Ostpreußen. Hier mussten wir unsere Pferde abgeben. Wir kamen mit dem letzten Transport von Wartenstein bis Dresden in Eisenbahnwaggons, weiter dann bis Niederschlottwitz. Hier holte uns der Bauer Kurt Steinigen ab, wir wohnten bei ihm und mein Vater arbeitete als Kutscher. Mein Vater konnte sich nur sehr schwer daran gewöhnen, er wollte immer heim nach Schmalleningken. Ich nähte und bin auch in die Häuser gegangen, um dort zu nähen. Beim Einzug der Russen haben wir uns immer versteckt, um den Vergewaltigungen zu entgehen.
Zur Bodenreform bekamen meine Eltern Land vom ehemaligen Freigut und wir wurden Neubauern. So wurde Cunnersdorf langsam unsere neue Heimat.